Expertise – Prof. Ibisch – Ökologischer Zustand und Umbau der Wälder

Zusammenfassung

Die offenkundigen Schädigungen der von den Extremwitterungen der vergangenen Jahre betroffenen Wälder geben Anlass zu einer Diskussion, die über die Wahl ökonomisch relevanter Baumarten für zukünftige Pflanzungen weit hinausgehen muss. Es bedarf einer ökosystemaren Perspektive und der Einsicht, dass die Vulnerabilität der Wälder gegenüber dem Klimawandel wesentlich durch den Zustand des Gesamtsystems einschließlich aller Organismen wie etwa
Pilze und Mikroorganismen sowie den Zustand der ökologischen Prozesse geprägt werden.

Klimasystem und Ökosysteme sind überaus komplex und entziehen sich durch dynamisch neu auftretende Wechselwirkungen sowie Rückkopplungen einer verlässlichen Modellierung. Tatsächlich wurden diverse im Rahmen der globalen Erwärmung auftretenden Phänomene erheblich unterschätzt. Es ist kontraproduktiv und gefährlich, sich ein vermeintlich genaues Bild von der Zukunft zu machen und aus ihm Strategien abzuleiten. Sicher scheint nur, dass die globale Erwärmung noch für längere Zeit voranschreiten wird und zwar in einem Ausmaß, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit und in solche Temperaturbereiche hinein, dass die bevorstehende Situation für die heutigen Ökosysteme als völlig neuartig gelten muss.

In jedem Falle ist es in den Wäldern besonders relevant, die auftretenden Störungen bestmöglich abpuffern zu können und damit mehr Zeit für Anpassung bzw. Wandlung zu gewinnen. In Ökosystemen bilden sich durch Diversität und Redundanz ‚Sicherheitsnetze‘; zum anderen werden Puffer und Selbstregulation ausgebildet, die die potenzielle Verwundbarkeit reduzieren. Reife und ungestörte agierende Ökosysteme kennzeichnen sich durch eine ausgeprägte Regulation von Standortbedingungen wie Mikroklima und Wasserspeicherung sowie den fortgesetzten Aufbau des eigenen Substrats – Fähigkeiten, die es zu fördern gilt.

Aktuell geschieht in Deutschland großflächig das Gegenteil. Forstliche Akteure agieren– auch im Rahmen von staatlich geförderten Maßnahmen – mit Kahlschlägen, der Befahrung und Räumung großer Flächen. Dies geschieht, ohne dass eine angemessene Abschätzung der Folgen und Risiken für Waldökosysteme, die Biodiversität in Deutschland und die gesamte Umwelt durchgeführt worden wäre. Es besteht Anlass zur Befürchtung, dass die Maßnahmen ganze Landschaftsökosysteme, die Biodiversität und den Naturhaushalt nachhaltig beeinträchtigen und damit nicht mit Biodiversitäts-, Wasser- und Bodenschutzgesetzgebung vereinbar sind.

Hitze in der Landschaft ist ein zentrales Problem, dem noch zu wenig Beachtung geschenkt wird. Höhere Temperaturen wirken mehrfach schädlich auf Pflanzen. Neben Hitzestress und der Verringerung der Wasserverfügbarkeit durch Austrocknung des Bodens kommt die austrocknende Wirkung heißer Luft hinzu, wobei der Effekt mit steigender Temperatur nichtlinear zunimmt. Wälder und Forsten, landwirtschaftliche Flächen, Wasser, Siedlungen und industriell genutzte Flächen sind nicht voneinander isoliert zu betrachten, zu beplanen sowie so zu nutzen sind, als wären sie voneinander unabhängig. Eine ökosystembasierte Klimawandelanpassungsstrategie müsste eine entsprechende Integration leisten.

Es erscheint dringend geboten, Wald und umgebende Landschaft so zu steuern, dass Kühlung und Wasserrückhaltung zur verbesserten Regeneration und Entwicklung von Wäldern. beitragen. Es existieren nach wie vor Freiheitsgrade für die Waldentwicklung mit den in naturnahen Ökosystemen vorhandenen Arten.

Die aktuellen Nutzungsformen gehören auf den Prüfstand. In naturnahen und vor allem älteren Laubmischwäldern muss ab sofort ein Einschlagsmoratorium verhängt werden. Dies muss gelten, bis klarer wird, wie die Wälder auf die aktuelle Periode von Extremwitterungen reagieren und wie v.a. unterschiedliche Bewirtschaftungsweisen die Waldvulnerabilität erhöhen. Mittelfristig ist ein Maßnahmenpaket zur Förderung der Waldfunktionalität umzusetzen. In den Nadelbaumforsten muss kurzfristig ein totales Verbot des Kahlschlags jeglicher Größe gelten. Für den Umgang mit Flächen, auf denen Kalamitäten aufgetreten sind, sich verstärken oder auftreten werden, müssen dringend für alle Besitzarten verbindliche Behandlungsrichtlinien verabschiedet werden.

Die gesamtökonomische Bilanzierung der Waldbewirtschaftung ist auf ein gänzlich neues Fundament zu stellen. Vor allem muss die Verquickung betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Aspekte offengelegt werden. Versteckte oder mutmaßliche Kosten sowie Subventionen sind genauso zu identifizieren und darzustellen wie alle Quellen von Schad- und Wertschöpfung – einschließlich aller Ökosystemleistungen, die von Wäldern bereitgestellt werden. Benötigt wird eine ganzheitliche Gemeinwohlbilanzierung des Waldes.

Eine Art Flächenprämie für die pauschale Förderung von Waldflächen unabhängig von ihrer Beschaffenheit ist kontraproduktiv. Es darf durch Förderung v.a. keine perversen Anreize zur Ökosystemdegradation wie etwa Kahlschläge und Totholzräumung geben. Aktivitäten zur Waldmehrung sowie biodiversitätsfreundliche Entwicklung von Kalamitätsflächen tragen kurzfristig zur Vermeidung von CO2-Emissionen und zur Bewahrung bzw. Entwicklung weiterer regulierender Ökosystemleistungen bei. Es gibt bereits privatwirtschaftliche Initiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Besitzer*innen entsprechender Flächen den Zugang zu den entsprechenden Märkten zu ermöglichen und transparente Zertifikate auszustellen.

Eine ‚Hitzesteuer‘ für Flächen, die überdurchschnittlich stark zur Erwärmung der Landschaft beitragen, könnte einen Anreiz für Maßnahmen bieten, die den Temperatureffekt eindämmen, sowie Einnahmen für die Förderung von Kühlung generieren. Zu besteuernde Flächen beträfen etwa großflächige Gebäude/Dächer, versiegelte Verkehrsflächen oder Tagebaue. Landnutzende könnte von einer entsprechenden Besteuerung ausgenommen werden, aber als Empfänger der Förderung kühlender Maßnahmen in Frage kommen. Vitale Waldökosysteme könnten so Einkommen generieren, und auf Kalamitätsflächen ergäben sich Anreize dafür, auf radikale Flächenbehandlungen zu verzichten.

Zum gesamten Bericht.
Quelle (Prof. Pierre Ibisch)
Deutscher Bundestag https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw48-pa-umwelt-805174